Oldenburg
Das gemeinsam von den Jungen Europäischen Föderalist*innen Niedersachsen und den Europäischen Föderalist*innen Oldenburg durchgeführte Seminar „Wie weiter mit der Europäischen Union? Die Herausforderungen brauchen Mut und Kreativität“ war ein voller Erfolg. Das Wochenende bot diverse Einblicke in die historische und aktuelle politische Lage in Europa sowie Ausblicke auf die nächsten Jahre. Neben den angekündigten Referent*innen konnten kurzfristig zwei weitere gewonnen werden, die Zukunftsprojekte vorstellten: ein Dialogforum mit Regionalbezug sowie der European Green Deal, mit dessen Umsetzung offiziell am 14. Juli 2021 begonnen wurde. Moderiert wurde die Veranstaltung von Gerhard Thiel, Vorstandsmitglied der Europa-Union Niedersachsen.
Zum Auftakt der Veranstaltung berichteten Viola von Cramon (Grüne/EFA, Ost- und Mitteleuropa-Expertin) und Tiemo Wölken (S&D, Rechtspolitischer Sprecher) am Freitagabend über ihre Erfahrungen als Parlamentsabgeordnete. Sie richtete ihren Schwerpunkt auf die EU-Erweiterungspolitik und den Umgang der EU mit ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission sei nicht gewillt, notwendige Reformen einzuleiten, um die Lage der Menschen auf dem Westbalkan zu verbessern. Die Beitrittsverhandlungen mit Serbien, Montenegro treten seit Jahren auf der Stelle und die zugesicherten Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien haben noch immer nicht begonnen. Bosnien-Herzegowina und Kosovo, die ebenfalls einen EU-Beitritt anstreben, gelten aufgrund innenpolitischer Unruhen bislang nur als potenzielle Beitrittskandidaten. Von Cramon äußert sich besorgt: „Es macht der Bevölkerung im Westbalkan, die sich mehrheitlich für einen Eintritt in die EU aussprechen, nicht viel Hoffnung, dass sich die EU-Mitgliedstaaten auf dem EU-Westbalkangipfel im Oktober 2021 wieder nicht auf einen konkreten Zeitplan einigen konnten. Wir müssen aufpassen, dass rechte Strömungen aufgrund unserer Untätigkeit nicht Überhand gewinnen.“ Tiemo Wölken schloss sich den Sorgen an. Es gehe nicht nur darum, die Fortschritte innerhalb der Staaten anzuerkennen. „Wir müssen ebenfalls den Wunsch der Bevölkerung nach einem EU-Beitritt berücksichtigen. Noch ist der Zuspruch für die EU überwiegend vorhanden, aber das kann sich schnell ändern, wenn sich die Menschen alleingelassen fühlen. Wir müssen mit ihnen solidarisch sein. Das ist für die Wertegemeinschaft Europa, für die Menschen vor Ort, aber auch im Hinblick auf Einflüsse von außen enorm wichtig.“, so Wölken. „Es ist offensichtlich. China investiert massiv in Europa und wird natürlich überall dort willkommen geheißen, wo die EU Investitionen verweigert.“, meint auch Cramon.
Am Samstag berichtete Dr. Dr. Gerald Volkmer, stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, über die Hintergründe der politischen Entwicklungen im östlichen Europa. Er zeigte typische Geschichtsbilder und eine Geschichtspolitik auf, die bis in die heutige Zeit wirken und die politische Lage Europas mitbestimmen. Heutige nationalistische Strömung lassen sich auf eine fehlende Aufarbeitungsdiskurse zurückführen. Anstatt die Vergangenheit kritisch zu reflektieren, suche die Bevölkerung in Ostmittel- und Südosteuropa nach Nationalsozialismus und Kommunismus krampfhaft eine eigene Identität. „Die Idee des Kollektiven wird über die Betonung und Überhöhung ‚des Eigenen‘, die Abwehr und Degradierung ‚des Fremden‘ und über die Kultivierung einer eigenen, exklusive verstandenen Opferrolle hergestellt.“, erklärt Volkmer. Aktuelle Unsicherheiten – z.B. hinsichtlich der EU-Beistrittsperspektiven – werden durch Orientierung an der Vergangenheit zu überwinden versucht. „Die nationale Erinnerungskultur fördert die Diskriminierung derer, die nicht in die Konstruktion des nationalen Kollektivs passen. Sie steht damit der europäischen Wertvorstellung von Vielfalt als Bereicherung und der Idee einer europäischen Identität entgegen. Ziel muss die Etablierung einer europäischen Erinnerungskultur sein.“
Ein zivilgesellschaftliches Projekt zur Demokratieförderung stellte Prof. Dr. Marga Pröhl vor. Eine Online-Regionalakademie soll als Dialogforum dienen, auf der sich Menschen einerseits vernetzen, andererseits über hochgeladene Präsentationen zu verschiedenen Themen mit und ohne Regionalbezug weiterbilden können. Die Online-Plattform befindet sich derzeit noch im Aufbau.
Über den European Green Deal und über die für dessen Umsetzung erforderliche nachhaltige Finanzwirtschaft informierte Dennis Zagermann, Referent für Sustainable Finance des Naturschutzbundes (NABU). Demnach seien die klimapolitischen Herausforderungen nur zu bewältigen, wenn sich auch der Finanzmarkt den unverzichtbaren Reformen für die Erhaltung lebenswichtiger Ressourcen und die Eindämmung von klimatisch bedingten Folgeschäden unterwirft. Dafür sind allerdings richtungsweisende politische Entscheidungen notwendig. Mit dem European Green Deal hätte die EU einen entscheidenden Hebel in der Hand, um Umwelt- und Klimafolgen zu begrenzen. Als zentrales Instrument sollte eine EU-Taxonomie Nachhaltigkeitsstandards für Finanzanlagen setzen, die sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. So sollen nachhaltige Aktivitäten finanziell belohnt werden. „Doch anstatt endlich die Chance zu ergreifen, wirksame Klimapolitik zu betreiben, kündigt sich institutionelles Greenwashing im ganz großen Stil an.“ Der Green Deal wurden von Ursula von der Leyen in den ersten Monaten ihrer Kommissionspräsidentschaft breit beworben und verspricht die Reduzierung der Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 auf null. „Unternehmen und EU-Mitgliedstaaten üben massiven Druck auf die EU-Kommission aus, um finanziell von der Einstufung von Gas und Atomenergie als nachhaltige Finanzanlagen zu profitieren. Die bevorstehende Entscheidung der Kommission droht der vollständige Glaubwürdigkeitsverlust, was Umwelt- und Klimapolitik betrifft.“, mahnt Zagermann. Seitdem von der Leyen sowohl EU Atomenergie als auch Gas als unentbehrliche Brückentechnologien bezeichnet hat, stehe fest, dass beide Energiequellen in die EU-Taxonomie aufgenommen werden. „Es ist richtig, dass wir nicht von heute auf morgen auf Gas und Atomenergie verzichten können. Finanzspritzen in dieser Größenordnung erhalten sie jedoch künstlich am Leben und verhindert aktiv den Ausbau von erneuerbaren Energien, für die letztendlich viel zu wenig Fördermittel übrig bleiben werden.“ Sollte es tatsächlich soweit kommen, sabotiert die EU-Kommission selbst die Realisierung ihrer Klima- und Umweltziele, bevor die angekündigten Maßnahmen überhaupt erst eingeleitet werden. Dies würde schon jetzt das Ende für die Erreichung der Ziele bedeuten.
Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland, schloss die Veranstaltung mit dem Aufruf, politische und zivilgesellschaftliche Vernetzungen zum Westbalkan nicht abreißen zu lassen. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Identität ist ein kontinuierlicher Prozess der Verständigung unerlässlich. Dazu gehört natürlich in erster Linie, die EU-Beitrittsverhandlungen wieder auszunehmen und zeitnah Fortschritte im europäischen Integrationsprozess zu erzielen. „Unsere Aufgabe als Verein ist es, der Bevölkerung solidarisch beiseite zu stehen, ihre Anliegen in den politischen Diskurs zu tragen und den Druck auf Entscheidungsträger*innen zu erhöhen.“, bekräftigt Moos. Auch wenn sich viele Parlamentsabgeordnete und große Teile der Kommission für die Aufnahme weiterer Staaten in die Europäische Union aussprechen, so scheitern Verhandlungen am Veto anderer EU-Mitgliedsstaaten. Außerdem müsse sich die EU generell reformieren. Auf der anderen Seite werden die Beitrittsforderungen bislang nicht in Gänze erfüllt. Die jährlichen Fortschrittsberichte stellen in Teilen wiederholt grobe Vernetzungen der Menschenrechte, Armut, Korruption sowie unzureichende Reformbemühung, z.B. für eine unabhängige Justiz und eine Durchsetzung der Meinungs- und Pressefreiheit fest. Moos spricht sich dafür aus, dass die EU ihr Interesse an einem Beitritt des Westbalkans nach außen trägt, die EU-Erweiterung als Chance begreift und die Staaten durch Investitionen unterstützt. Auch die unterschiedlichen Standards in den EU-Mitgliedstaaten und die schlechten Erfahrungen mit den Beitritten von Rumänien und Bulgarien sind auf einen ebenso innerhalb der EU stockenden Integrationsprozess zurückzuführen. Sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft muss ein permanenter Austausch stattfinden, um Demokratie zu fördern, Ungleichheiten entgegenzuwirken sowie entsprechende Reformen auf den Weg zu bringen.
