von Henning Kulbarsch
Die geplante – und mittlerweile zu 98 % fertiggestellte – Gaspipeline zwischen Deutschland und Russland, Nord Stream 2, erhitzt schon seit Langem die Gemüter. Nord Stream 2 sollte einst Erdgas von Russland durch die Ostsee auf direkten Weg nach Deutschland transportieren, doch ob dies je passieren wird, steht in den Sternen. Während die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern mithilfe einer ominösen „Umweltstiftung“ versucht, das Projekt zu retten, setzt die neue US-Regierung im Wesentlichen den Sanktionskurs der Vorgängerregierung fort. Zugleich stellen sich im Zuge der Verhaftung Alexei Nawalnys neue Fragen an die Sinnhaftigkeit dieses Projektes. Die Debatte um die Pipeline hat dabei zuletzt an Schärfe gewonnen.
Die Befürwortenden des Projektes erhoffen sich zum einen ökonomische Vorteile. Dies gilt für Gasprom und die russische Regierung, die natürlich Geld verdienen möchten, aber auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern, deren Ministerpräsidentin Manuela Schwesig sich neue, gut entlohnte Arbeitsplätze an Vorpommerns strukturschwachen Küsten erhofft. Auch führen die Befürwortenden die Energiesicherheit ins Feld: Ohne russisches Gas, so das Argument, könnten in Deutschland bald die Lichter ausgehen, da der Umstieg auf die Erneuerbaren zu langsam voranschreite und wir gleichzeitig aus Atom- und Kohlekraft aussteigen.
Die Kritikerinnen und Kritiker des Projektes, zu denen auch der Autor dieser Zeilen zählt, sehen dies anders. Die Anforderungen des Klimaschutzes erfordern nicht nur den Kohle-, sondern auch den baldigen Gasausstieg. Die Kraft der Erneuerbaren wird bis heute chronisch unterschätzt, und die vielfältigen Chancen der Sektorenkopplung werden ebenso wie verbesserte Energieeffizienz dazu beitragen, Energiesicherheit selbst in Zeiten der „Dunkelflaute“ zu gewährleisten. Zudem ist die Pipeline anders als stets von Angela Merkel behauptet natürlich auch ein politisches Projekt und ist es immer gewesen. Doch soll man die russische Regierung wirklich für ihr politisches Verhalten der letzten Jahre belohnen? Trotz aller westlichen Versuche, „den Gesprächsfaden nicht abreißen“ zu lassen und „weiterhin den Kontakt zu suchen“, hat Präsident Wladimir Putin seine aggressive Außenpolitik rücksichtslos vorangetrieben. Wir in Deutschland mögen ja gemütlich weit weg sein – aber frage mal einer die Menschen in Georgien, der Ukraine oder Syrien, was sie von Putins Russland halten! Auch unsere EU-Partnerstaaten Polen, Estland, Lettland, Litauen, Finnland und Schweden fürchten das neue, alte russische Großmachtstreben. Die Pipeline in Betrieb zu nehmen, und so unseren Alliierten derart in den Rücken zu fallen, hielte ich für absolut unangemessen und eine politische, moralische und geostrategische Fehlleistung ersten Ranges. Auch wenn die Sanktionen der USA selbst ein Grund zu Ärgernis sind, hat die US-Regierung argumentativ ebenso Recht wie die Regierungen der nordöstlichen EU-Staaten und die deutschen Kritikerinnen und Kritiker des Projektes.
Das Problem ist, dass ein Abbruch des Projektes zum derzeitigen Zeitpunkt kaum möglich zu sein scheint, ohne dass viele einflussreiche Leute im wahrsten Sinne des Wortes in die Röhre gucken werden. Würde Nord Stream 2 gestoppt, würden sich etwa viele Menschen im deutschen Nordosten veräppelt vorkommen. Für sie wäre einmal mehr der Beweis erbracht, dass ihre ostdeutschen Interessen in der Bundesrepublik nichts zählen. Ein neuer, diesmal nicht ganz unberechtigter Opfermythos mit allen negativen Begleiterscheinungen (AfD-Wahlerfolge, Demokratieverachtung usw.) könnte die Folge sein. Auf der anderen Seite würde eine Vollendung der Pipeline nicht nur den Klimaschutz beeinträchtigen und die Umweltbewegung auf die Palme bringen. Vielmehr wären Deutschlands Beziehungen zu den USA und den genannten Nord- und osteuropäischen Ländern auf Jahre gestört. Wir als Europa-Union sollten uns deshalb besonders kritisch fragen, ob das Projekt wirklich eine Zukunft haben kann und darf.
Doch wie kann nun eine Lösung für das Nord Stream-Schlamassel aussehen? Schon im Januar hatte ich auf meinem Blog dazu die Idee entwickelt, die Pipeline zwar zu vollenden, aber nicht in Betrieb zu nehmen. Dazu muss die Bundesregierung zunächst die US-Regierung überzeugen, von den Sanktionen abzulassen, denn es darf nicht so aussehen, als ob man sich US-amerikanischem Druck gebeugt habe. In einem zweiten Schritt, ein paar Monate nach dem Ende der USSanktionen (und der Fertigstellung der Pipeline) sowie den erwartbaren Protesten der Klimabewegung gegen die Inbetriebnahme der Röhre, erklärt die (neue) Bundesregierung angesichts der Klimaproblematik und dem Umgang der russischen Regierung mit der russischen Opposition das Ende des Projektes. Man werde die fertiggestellte Pipeline nicht in Betrieb nehmen, weil sich die Ansichten zum Klimaschutz geändert hätten und man zudem Putins Verhalten gegenüber Nawalny und dessen Anhängerinnen und Anhängern nicht ignorieren könne. Um die Menschen in Vorpommern nicht zu enttäuschen, wird zudem nach dem Vorbild des Kohlekompromisses ein Infrastrukturpaket vereinbart, um mit der Ansiedlung von Bundesbehörden, Umgehungsstraßen, Spaßbädern etc. eine Kompensation für den wirtschaftlichen Verlust zu schaffen. So ließe sich vielleicht ein unsägliches Projekt beerdigen, ohne jemanden zu sehr zu vergrätzen. Selbst die russische Regierung wäre, glaubt man jüngeren Medienberichten (etwa MDR aktuell vom 12. September 2020), nicht allzu wütend über ein Ende des Projektes. Um mit einem Kalauer zu schließen: Es wäre für uns alle das Beste, würde Nord Stream 2 zum Rohrkrepierer.
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